Matthias Goerne: Klassische Musik findet ihre Zukunft in Asien
Am Abend des 19. April interpretierte der deutsche Bariton Matthias Goerne gemeinsam mit dem Sinfonieorchester Shanghai unter der Leitung des Dirigenten Charles Dutoit, die „Rückert-Lieder“ von Gustav Mahler.
Goerne, der als „Künstler in Residenz“ für die Saison 2024-2025 des Orchesters engagiert ist, zählt zu den bedeutendsten Sängern seiner Generation. In dieser Spielzeit setzte er seine Zusammenarbeit mit dem Orchester fort – zunächst mit Mahlers „Das Lied von der Erde“ unter der Leitung des chinesischen Dirigenten Yu Long und nun mit den „Rückert-Liedern“ unter Dutoits Stabführung.
Für Goerne verkörpert das Kunstlied eine einzigartige Verbindung von Literatur und Musik. „Man muss zunächst den Text durchdringen, die Emotionen hinter den Worten verstehen, bevor man sie mit der Musik verschmelzen lässt. Erst diese Symbiose schafft eine höhere künstlerische Ebene“, erklärte er. Mahler, so Goerne, sei der bedeutendste Komponist deutschsprachiger Kunstlieder im späten 19. Jahrhundert gewesen. Während das Kunstlied zuvor auf eine Klavierbegleitung beschränkt war, revolutionierte Mahler die Gattung durch den Einsatz des ganzen Orchesters. „Er erfand diese Form neu. Das Orchester eröffnete ungeahnte Klangfarben, Möglichkeiten und Interaktionen.“
Matthias Goerne und Charles Dutoit [Foto: Shanghai Observer]
Die Zusammenarbeit mit Charles Dutoit und dem Sinfonieorchester Shanghai beschrieb Goerne als inspirierend: „Die ,Rückert-Lieder‘ sind technisch anspruchsvoll, voller dynamischer Gegensätze. Ein Meister wie Dutoit führt das Orchester mit solcher Präzision, dass daraus ein magischer Klangkosmos entsteht. Dieses Orchester ist professionell, vielseitig und ohne Schwächen – eine Freude, mit ihm zu arbeiten.“
Friedrich Rückert, dessen Lyrik Mahler vertonte, war ein deutscher Dichter der Romantik, dessen Werke auch von Komponisten wie Mendelssohn, Liszt und Brahms geschätzt wurden. Besonders prägend blieben jedoch Mahlers Vertonungen der Kindertotenlieder und der „Rückert-Lieder“. Letztere, zwischen 1901 und 1902 entstanden, umfassen fünf Lieder, von denen die ersten vier 1905 unter Mahlers eigener Leitung in Wien uraufgeführt wurden. Das fünfte Lied, posthum von Max Puttmann instrumentiert, komplettierte den Zyklus.
Matthias Goerne und Charles Dutoit [Foto: Shanghai Observer]
Rückert, fasziniert von der östlichen Kultur, war der erste, der das chinesische „Buch der Lieder“ (chinesisch: 诗经) ins Deutsche übersetzte. Goerne, selbst ein Bewunderer chinesischer Philosophie, betonte die Bedeutung der konfuzianischen Lehre der „goldenen Mitte“: „Im Aufstieg nicht überheblich werden, in Niederlagen nicht verzweifeln – das ist zeitlose Weisheit.“
Im Zentrum von Goernes Botschaft stand eine These: Die Zukunft der klassischen Musik liege in Asien. „Der Westen kämpft mit einem Teufelskreis: ein alterndes Publikum, schwindende Traditionen, fehlender Nachwuchs. Die humanistische Bildungselite des 19. Jahrhunderts, die diese Musik trug, existiert nicht mehr“, analysierte er. In China dagegen sieht er ein „gesundes kulturelles Ökosystem“: staatliche Subventionen ermöglichten einen breiten Zugang zu klassischer Musik, Konzertsäle füllten sich mit jungen Menschen – ein in Europa seltenes Bild.
„Die Zukunft liegt in Asien: China, Südkorea, Japan tragen die Hoffnung der klassischen Musik“, so Goerne. Besonders beeindruckt ihn die chinesische Kulturpolitik: „Kultur ist das Fundament der Gesellschaft. In einem Land mit 1,4 Milliarden Menschen ist diese Weitsicht entscheidend.“ Jeder Besuch in Shanghai bestätigt ihn: Hier pulsiert das Leben der Klassik – mit einer Jugend, die neugierig, offen und hungrig nach großen Emotionen ist.
Quelle: Shanghai Observer, zusammengestellt mit Änderungen